Das Unternehmen wurde durch Hörgeräte weltbekannt. Jetzt produziert Phonak Earcare Solutions in Murten Geräte für den präventiven Schutz des Gehörs – ein Widerspruch?

Irgendwie paradox: Ein Unternehmen ist führend in der Entwicklung und dem Vertrieb von Hörgeräten. Gleichzeitig engagiert es sich im Gehörschutz, damit weniger Menschen einen Hörverlust erleiden. Stefan Exner, Managing Director der Phonak Communications AG, erklärt die Situation: «Wenn wir verhindern können, dass jemand schwerhörig wird, dann ist uns das viel lieber. Auch so wird es immer genügend Kunden für Hörgeräte geben.»

Viele Menschen arbeiten in Fertigungsbetrieben mit schädlichen Lärm emissionen. Laut einer im Jahr 2004 selbständig durchgeführten Umfrage verwenden 75 Prozent der Mitarbeiter Stöpselaus Schaum- oder Kunststoff, 20 Prozent tragen die grossen Kapseln über dem gesamten Ohr.

Beide Lösungen sind nicht optimal. Stöpsel sollten tief ins Ohr eingesetzt werden. Je nach Anatomie der Ohrmuschel drücken diese Stöpsel, stören somit und werden nur äusserlich aufgesetzt. So sind sie beinahe wirkungslos. Wer die Kapselsysteme über dem Ohr trägt, ist zwar geschützt. Aber sobald zwei Menschen miteinander kommunizieren, müssen sie die Kapseln abnehmen. In dieser Zeit ist das Gehör dem Lärm ausgesetzt und wird geschädigt. Ausserdem werden Warnsignale nicht mehr zuverlässig wahrgenommen. «Jedes Jahr sterben Menschen, die vom Gabelstapler überfahren werden, weil sie ihn nicht gehört haben», weiss Exner.

Der allgemeine Grenzwert liegt zwischen 80 und 85 Dezibel. Im Bereich von 85 bis 120 Dezibel muss das Gehör unbedingt geschützt werden.

Seltene und kurze Überschreitungen der Grenzwerte sind noch nicht alarmierend. Die Grundlage ist ein achtstündiger Arbeitstag. Liegt der Durchschnittswert der Lärmbelastung über 87 Dezibel, muss der Mitarbeiter den ganzen Tag hindurch einen Gehörschutz tragen.

Der Mensch beginnt allerdings erst ab zirka 92 Dezibel, den Lärm als störend zu empfinden. Dieser Zwischenbereich ist gefährlich: Pro drei Dezibel mehr Lärm verringert sich die Zeit, ohne Schädigung hören zu können, um die Hälfte! Ein Beispiel: Bei 87 Dezibel kann das Gehör acht Stunden lang belastet werden. Nur noch vier Stunden sind es bei 90 Dezibel, 120 Minuten bei 93 Dezibel.

Zuerst analysiert das Unternehmen die Lärmsituation im Betrieb und schlägt eine geeignete Hörschutzlösung vor. Dann werden die Ohrabformungen jedes einzelnen Mitarbeiters genommen. Zurück bei der Phonak werden die Hörschalen in einem neuen, einzigartigen Verfahren gefertigt.

Serenity ist eine Eigenentwicklung des Unternehmens. Die kleinen Teile werden durch ein digitales Verfahren gefertigt. Eine in 50 Mannjahren eigens entwickelte Modellierungs-Software vermisst das Einzelstück dreidimensional und erstellt aus der Ohrabformung die Gehörschutzschale. Je nach Notwendigkeit wird am Computer an einzelnen Stellen gezielt Material aufgetragen oder abgenommen, um Dämmwirkung und Tragekomfort zu verbessern.

Das Material besteht aus widerstandsfähigem, biokompatiblem Nylon, das schichtweise mit einem Laser aufgebaut wird. Es fühlt sich seidig an, klebt und juckt nicht. Es nimmt keinen Schweiss auf und lässt sich einfach bei 60 Grad waschen. Das Material ist form- und UV-beständig sowie chemisch resistent und übersteht auch einen Sturz aus 15 Metern Höhe auf den Hallenboden. Eine einzelne Hörschale wiegt zirka 1,5 Gramm. Silikon ist dreimal schwerer. Der Tragekomfort des Gehörschutzes wird damit stark erhöht.

Der Lärmfilter dämpft nur so viel wie nötig. Dafür gibt es verschiedene Filter.Ändert sich die Lärmsituation für einen Mitarbeiter, kann er seinen Hörschutz einfach anpassen lassen. Dies ist nur im Hause Phonak möglich und benötigt ein Spezialwerkzeug. Der Hersteller verhindert damit selbständiges Hantieren am Gerät, das dessen Schutzfunktion deutlich beeinträchtigen kann.

Nach der Fertigung wird exakt gemessen, wie viel Schall noch durch den Gehörschutz gelangt. Diese Messung dient als Absicherung für den Kunden wie auch für Phonak.

Alle Messergebnisse bleiben in einer Datenbank gespeichert. Bei einer Beschädigung oder einem Verlust muss nicht mehr das ganze Ohr ausgemessen und berechnet werden. Innert kurzer Zeit erhält der Mitarbeiter einen neuen, identischen Hörschutz.

Das Verfahren wird bei Phonak seit fünf Jahren erfolgreich in der Produktion von Im-Ohr-Hörgeräten eingesetzt.

Mit Serenity hat Phonak bereits die Voraussetzungen für den nächsten Schritt getroffen, den das Unternehmen gehen möchte. «Die Verbindung von Gehör

schutz und Kommunikation wird uns in den nächsten Jahren am meisten beschäftigen», ist Exner überzeugt. Serenity hat einen Hohlraum, der ein solches Kommunikationssystem mit einem Empfänger und einem Mikrophon enthalten könnte. Mit einem Headset ausgestattet, gibt es für die Mitarbeiter keinen Grund mehr, die Schutzgeräte abzunehmen.

Ausserdem möchte Stefan Exner aktive Schutzsysteme vorantreiben. Sie passen sich blitzschnell dem Lärmpegel an. Ein interessanter Punkt auch für Polizisten. Denn einerseits sind Schüsse laut und schädigen das Gehör, andererseits muss ein Polizist im Einsatz auf alles vorbereitet sein, schnell und reflexartig handeln können. Dazu ist die gesamte Geräuschkulisse wichtig. «Verständlich, dass diese Menschen im Einsatz oft auf Gehörschutz verzichten, um am Leben zu bleiben», sagt Exner.

Veröffentlicht in der Fachzeitschrift Safety-Plus (Februar 2006).