In der schweizerischen Raumentwicklung müssen auch Naturgefahren eine Rolle spielen. Dabei sollte nicht nur die Gefahr, sondern vor allem das Risiko gezielt betrachtet werden.

Schäden durch Naturereignisse haben in den letzten Jahrzehnten laufend zugenommen – trotz erheblichem Aufwand zum Schutz davor. Eine Ursache ist die immer dichtere und intensivere Nutzung des Raums und seine Ausweitung in Gefahrenräume. Naturgefahren müssen deshalb ebenfalls in die Überlegungen zur Raumentwicklung einfliessen.

Der gefahrenbasierte Ansatz
Seit dem Jahr 1991 verlangt das Gesetz, dass für die Schweiz Gefahrenkarten erarbeitet werden. Inzwischen sind rund 95 Prozent dieser Karten vorhanden. Sie zeigen in verschiedenen Farben, an welchen Standorten welche Gefährdungen existieren: Rot weist auf eine erhebliche, Blau auf eine mittlere Gefährdung hin. In diesen Gebieten braucht es raumplanerische Massnahmen, zum Beispiel klare Auflagen oder sogar ein Bauverbot. Die Farben Gelb (geringe Gefährdung) und Gelb-Weiss (Restgefährdung) sind hingegen bloss Hinweise, eine Pflicht für Auflagen oder Einschränkungen gibt es nicht.
Doch die Gefahrenkarten zeigen nur die Gefahr, also den Zustand, Umstand oder Vorgang, aus dem ein Schaden für Mensch, Umwelt oder Sachgüter entstehen kann. Das sagt noch nichts über die tatsächlichen Risiken aus, nämlich über das Ausmass und die Wahrscheinlichkeit möglicher Schäden. Im Kanton Bern beispielsweise ist fast ein Viertel des Siedlungsgebiets gefährdet, allerdings sind davon nur rund 0,2 Prozent rote und etwa fünf Prozent blaue Flächen. Der grösste Teil ist gelb oder gelb-weiss. „Und das ist oft genau dort, wo das grosse Schadenpotenzial liegt“, sagt Roberto Loat vom Bundesamt für Umwelt BAFU. „Die Wassertiefe in einem gelben Gebiet ist höchstens 50 Zentimeter. Doch das kann einen Keller füllen und hohen Schaden verursachen. Befindet sich dort ein Rechenzentrum oder das Lager eines Unternehmens, muss es allenfalls für längere Zeit schliessen, was im Extremfall sogar existenzbedrohend sein kann. Eine geringfügige Massnahme, beispielsweise eine kleine Mauer oder wasserdichte Fenster und Türen, hätte es davor schon geschützt.“

Der risikobasierte Ansatz
Der Fokus verlagert sich deshalb von einer gefahrenbasierten zu einer risikobasierten Betrachtung. „Man sollte immer auf die Art und Intensität der Nutzung sowie auf deren Schadenanfälligkeit achten“, betont Loat. „Auflagen können auch in einem Gebiet mit Restgefährdung sinnvoll sein. Umgekehrt kann man durchaus auch eine rote Fläche in bestimmten Situationen nutzen.“ Es kommt also viel eher darauf an, was man baut und wie man es nutzt, anstatt welche Farbe das Gebiet auf der Gefahrenkarte hat. Eine der ersten Schweizer Gemeinden, die unter genau diesem Ansatz agiert, ist Lyss. Dort kam es im Jahr 2007 zu drei Jahrhundert-Hochwassern innerhalb von nur zehn Wochen. Lyss hatte Schäden von mehr als hundert Millionen Schweizer Franken zu beklagen. Im Jahr 2012 wurde deshalb ein Entlastungsstollen für den Lyssbach eröffnet. Durch eine solche Schutzmassnahme konnte man die vielen blauen und gelben Gebiete in der Gemeinde zurückstufen. Was Blau war, ist heute Gelb-Weiss, Objektschutzmassnahmen wären nicht mehr nötig. Trotzdem kann dort noch immer etwas geschehen und wieder grosse Schäden verursachen. Deshalb macht Lyss heute auch Auflagen für sensible Gebäude auf einer gelb-weissen Fläche.

Zusammenarbeit nötig
Das Bundesamt für Raumentwicklung ARE und das BAFU erarbeiteten an konkreten Gemeinden theoretische Fallbeispiele, um den Ansatz einer risikobasierten Raumplanung zu testen. Verschiedene Hypothesen wurden aufgestellt und Szenarien durchgespielt. „Wir erkannten einerseits, dass es wichtig ist, sich auch in bereits bestehenden Siedlungsgebieten gezielt mit Risiken zu beschäftigen“, sagt Reto Camenzind vom Bundesamt für Raumentwicklung. „Andererseits erkannten wir, dass man sich in der Raumplanung möglichst früh mit dem Thema auseinandersetzen und Naturgefahren-Experten hinzuziehen sollte. Das klingt zwar banal, ist heute aber noch nicht gang und gäbe. In der Regel erstellt ein Ortsplaner die Nutzungsplanung. Er kennt zwar die Gefahrenkarten, Überlegungen zu den Risiken werden aber kaum vorgenommen.“
Thomas Egli bestätigt das. „Bis heute läuft diese Zusammenarbeit aber noch harzig bis gar nicht“, sagt er, „obwohl wir uns sogar aktiv als Fachspezialisten anbieten.“ Egli ist Geschäftsführer der auf Naturgefahren spezialisierten Egli Engineering AG und organisiert jeweils im Rahmen der Fachmesse Sicherheit in Zürich eine Sonderschau zum Risikomanagement von Naturgefahren, um genau diese Akteure besser zu vernetzen. „Viele Raumplaner schauen sich die Gefahrenkarten an, setzen sich mit dem Thema aber nicht wirklich auseinander. So ist der Gewinn daraus sehr klein, vor allem für die Gemeinde“, sagt Egli. „Fachspezialisten können Risiken aufzeigen und erläutern und die Raumplaner können die Ziele, Entwicklungsabsichten und Erschliessungspläne der Gemeinde vorbringen, die der Fachspezialist wiederum nicht kennt. In der Regel ist nach zwei oder drei Sitzungen alles klar.“ Wer diesen Mehrwert erkenne, nehme hierfür Budgetmittel in die Offerte und das Thema auf die Traktandenliste. So steige das Bewusstsein, dass es diese Mittel und diese Zusammenarbeit brauche.

Risiken kennen und bewerten
Eine Sensibilisierung ist dennoch schon zu erkennen. Beispielsweise erstellte der Kanton Schaffhausen eine Risikoübersicht, auf deren Grundlage effiziente Schutzmassnahmen abgeleitet werden können. Der Kanton Thurgau lancierte eine entsprechende Studie und auch die Kantone Graubünden und Luzern starteten lokale Pilotstudien und machen so erste Gehversuche in der Erfassung und Bewertung von Risiken. Der Kanton Zürich erstellte eine Risikoanalyse und zeigt aufgrund der Gefahrenkarten an, wo die grössten Risiken liegen. In Sachen Hochwasser erarbeitete das Zürcher Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft AWEL eine Risikokarte, die den Handlungsbedarf verdeutlicht. Sie zeigt beispielsweise: Die Überschwemmungsgefahr am Zürcher Hauptbahnhof ist zwar gering, das Risiko allerdings hoch. Der Kanton Fribourg geht nun sogar noch einen Schritt weiter und überlegt sich zusätzlich, wie die Nutzung an eine durch den Klimawandel veränderte Situation angepasst werden kann.
„Für eine risikobasierte Raumplanung müssen wir zuerst die Risiken kennen“, sagt Loat. „Die Gefahrenkarten zeigen die Gefahrensituation auf. Sie müssen nun mit der Nutzung überlagert werden und die so ermittelten Risiken können dann bewertet werden. Sind sie tragbar, müssen wir sie so steuern, dass sie nicht laufend zunehmen und schliesslich ein Schutzdefizit entsteht. Sind sie nicht tragbar und es besteht bereits ein Schutzdefizit, müssen wir Massnahmen treffen, die Risiken auf ein tragbares Niveau reduzieren und auf diesem dann halten. Denn der Grundsatz ‘Vorbeugen ist besser als heilen’ gilt ganz besonders im Umgang mit Naturgefahren.“

Fazit
Es gilt also, Gebiete gefahrengerecht zu nutzen und vor allem auch in gelben und gelb-weissen Gefahrengebieten Nutzungen auf ihre Risiken hin bewusst zu gestalten. Dafür ist nun die enge Zusammenarbeit zwischen Naturgefahren-Experten und Raumplanern nötig. „Dafür ist die Zeit reif“, sagt Roberto Loat. „Aber auch weitere Akteure wie Versicherungen, Bevölkerungsschutz, Anlagebetreiber und vor allem die direkt betroffenen Hauseigentümer müssen für eine erfolgreiche Umsetzung involviert werden. Jeder muss einen Beitrag leisten.“

 

Sonderschau „Risikomanagement von Naturgefahren“

An der Fachmesse SICHERHEIT 2015 vom 10. bis 13. November 2015 in Zürich bietet eine Sonderschau zum Risikomanagement von Naturgefahren in der Halle 6 eine ideale Plattform für den Austausch von Sicherheitsbeauftragten, Gefahrenfachleuten und Raumplanern. Sie gibt Aufschluss über die erfolgreiche Anwendung von Gefahrenkarten, bietet Raum für den Dialog, informiert zu neusten Entwicklungen und Produktlösungen, liefert Instrumente und Grundlagen für die Risiko-Beurteilung und -Reduktion und stellt neue Richtlinien und Anforderungen vor. Im offenen Forum werden breitgefächerte Themenbereiche beleuchtet und diskutiert. Dabei steht der Praxisbezug im Zentrum, so dass der Dialog an den Themenhalbtagen auflebt.
Für alle Besucher der SICHERHEIT 2015 ist die Teilnahme am Forum kostenlos. Die ans Forum angrenzenden Ausstellungsflächen vervollständigen das Angebot mit passenden Lösungen zu den diskutierten Themen.
Infos: www.sicherheit-messe.ch

 

Publikation
Das ARE und das BAFU erarbeiteten eine Publikation „Risikobasierte Raumplanung“, die unter http://www.bafu.admin.ch/publikationen/publikation/01799/index.html?lang=de kostenlos zum Download zur Verfügung steht.

 

Veröffentlicht in der Fachzeitschrift “Sicherheits-Forum” (Oktober 2015).

Zum Original-Beitrag:

 

 

 

 

 

 

 

Bild: IG GIS / NGK des Kanton St. Gallen