Andreas Wernli kennt den Sport und die Baustelle. Seitdem der ehemalige Nationalliga-Handballer und gelernte Zeichner und Maurer seine Erfahrungen weitergibt, konnten schon viele junge Menschen eine Menge gewinnen – sowohl im Sport als auch auf der Baustelle.

«Etwa 70 bis 80», sagt Andreas Wernli. «Vielleicht sogar 100.» Auf jeden Fall waren es viele Lernende, die der Arbeitssicherheitsbeauftragte und Berufsbildner des Bauunternehmens Anliker AG in den letzten knapp zehn Jahren begleitete. Keiner hatte je einen schweren Unfall. Wernli klopft auf den Holztisch.
«Es ist wichtig, dass die Jungen gut betreut werden », betont er. In ihrem Alter beginnt das ganze Leben und die Welt wird grösser. Der Beruf und die Gefahren auf einer Baustelle sind ihnen fremd. Es gibt viele neue Eindrücke, Bezugspersonen, Verantwortungen und plötzlich auch Druck. Und die Arbeit ist anstrengend.
Wernli versucht sich immer wieder zu erinnern, wie es ihm selbst vor 40 Jahren erging. «An meinem ersten Tag auf der Baustelle war ich körperlich topfit, ich war Sportler und kam direkt von der Offiziersschule. Trotzdem sank ich am Feierabend sofort ins Bett», erzählt er. Die neuen Bewegungen, dazu die Witterung – nach einem Monat gewöhne sich der Körper daran, aber dieser erste Monat sei für niemanden einfach.

Man muss den Kopf über die Hände steuern.

Der Sport
Den Begriff Lehrlinge mag er nicht, er nennt sie lieber Lernende oder Auszubildende, so wie sie in Deutschland heissen. «Es ist unsere Aufgabe, sie auszubilden. Sie dürfen Fehler machen. Natürlich müssen sie aus diesen lernen. Genau wie im Sport. Nur wer weiss, wie sehr das Verlieren schmerzt und deshalb mehr trainiert, wird auch gewinnen können», sagt er und verbindet damit zwei Welten, in denen er sich gut auskennt. Andreas Wernli spielte Nationalliga-Handball und war jahrelang Trainer von Junioren-Mannschaften. «Ob im Sport oder auf der Baustelle, man muss organisiert sein und braucht sein Team. Macht einer nicht mit oder fällt aus, haben die anderen mehr Last und die Erfolgschancen nehmen ab. Man kann nur so gut sein, wie es die Kollegen ermöglichen.»
Auch auf der Baustelle sieht sich Wernli vor allem als Coach. Und manchmal als Polizist. Es brauche beides. Er möchte mit Verständnis und Gespräch arbeiten, Vertrauen aufbauen und Augen öffnen. Irgendwann ist die Zeit des Redens jedoch abgelaufen. «Dann muss man hart sein und Leitplanken abstecken. Das ist ein bisschen wie mit den Kindern zu Hause», sagt der zweifache Familienvater.

Der Zeitdruck
Eine Baustelle verändert sich laufend, alle fünf Minuten gibt es eine andere Situation und vieles muss schnell gehen. «Der Zeitdruck ist ein riesiges Thema. Aber er entbindet uns nicht von unseren Hausaufgaben. Wenn wir im Vorfeld genug denken, sparen wir viel Zeit. Wir erfinden das Bauen nicht jedes Mal neu, wir können Standards erarbeiten. Und natürlich sagen auch wir bei Gefahr Stopp. Lieber gehen wir mal etwas später nach Hause, dafür aber gesund», sagt Wernli.
Jeder, auch ein Lernender, solle in seinem Umfeld eigenverantwortlich handeln, die Umgebung wahrnehmen, sich Gedanken machen und sich selbst warnen. Wer das könne, traue sich auch, bei anderen zu intervenieren. Um das zu erreichen, müsse Sicherheit überall ein Thema sein, in der Schule, in Kursen und bei der Arbeit. Am besten funktioniere der konkrete Anschauungsunterricht auf der Baustelle selbst. «Man muss den Kopf über die Hände steuern», sagt er.

Die Geschichten
Wernli freut sich, wenn er auf ehemalige Lernende trifft und sieht, was aus ihnen geworden ist. Manchmal tauschen sie dann alte Geschichten aus. «Aus den Erfahrungen von anderen können wir viel gewinnen», sagt er. Doch die Berufsbildung gibt der 58-Jährige nun schrittweise ab. «Ich bin nicht mehr der jüngste Knochen, aber die Lernenden bleiben immer gleich jung», sagt er.
Aufgaben hat er ohnehin noch genug. Die Arbeit als Arbeitssicherheitsbeauftragter ist zeitintensiv. Sein ehemaliger Handball-Verein suchte einen Präsidenten und er sprang ein, weil er die Jungen nicht versauern lassen konnte. Zudem engagiert er sich als Bauberufe-Botschafter und zeigt Schülern auf, wie spannend diese Berufe sind. «Man muss nicht 50 Jahre lang Maurer bleiben», sagt er, der auf seinem Weg nie stehen blieb. «Solange man lebt, muss man lernen, probieren, geniessen – und sich halt auch einmal aufregen.»

Veröffentlicht im Suva-Magazin “Benefit” (Februar 2015).

Bild: Dominik Wunderli