Psychosoziale Belastungen kosten die Unternehmen, das Gesundheitssystem und die Gesellschaft unheimlich viel. Je näher man sich mit diesen Milliarden-Beträgen und ihren Ursachen befasst, desto mehr erhält man den Eindruck, Geld spiele keine Rolle. Aber das tut es eben doch. Die überraschende Aufhebung des Euro-Mindestkurses machte dies wieder verstärkt bewusst.

Der sogenannte War for Talents hat längst begonnen. Viele Unternehmen bemühen sich, die besten Talente und Mitarbeitenden für sich zu gewinnen. Von ihnen versprechen sie sich unternehmerischen und finanziellen Gewinn. Was diese Betriebe noch vermehrt lernen müssen: Es geht nicht nur darum, talentierte Mitarbeitende für sich zu gewinnen, sondern auch darum, sie bei sich halten zu können – effizient, produktiv, kreativ und gesund. Sonst dreht der Kampf um Talente und Gewinne bald in einen Kampf gegen allerlei Belastungen.
«50 Prozent der Wirtschaft ist Psychologie», sagte einst der deutsche Wirtschaftswunder-Kanzler Ludwig Erhard. Er sprach damals über den wirtschaftlichen Erfolg. Doch die Aussage gilt auch umgekehrt: Psychosoziale Belastungen nehmen massiv zu und kosten immer mehr Geld. Mobbing, Bossing, Gewalt, Drohungen, Stalking, Schuldzuweisungen, sexuelle Belästigungen, Stress, Fehlerkultur, Burnout, Depressionen, Komplexität, falsche Arbeitsmittel und -anweisungen, widersprüchliche Arbeitsabläufe, Whistleblowing – die Liste an Beispielen liesse sich noch weiter verlängern.

Zahlen und Fakten
Es ist schwierig, die Kosten einzelner psychosozialer Belastungen in Zahlen zu beziffern. Sie hängen vom Betrieb, der Dauer und der Intensität der Belastungen sowie der Funktion und dem Salär der Betroffenen ab. Die Stressstudie des Schweizer Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) aus dem Jahr 2000 bezifferte die Aufwendungen durch Absenzen und Behandlungen im Zusammenhang mit Stress auf 4,2 Milliarden Schweizer Franken. Das sind 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Unter Berücksichtigung von Arbeitsausfällen und Berufskrankheiten belaufen sich die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten berufsassoziierter Gesundheitsstörungen (BAGS) auf mindestens acht Milliarden Franken oder rund 2,3 Prozent des BIP. Dieser Betrag betrifft nur die erwerbstätige Bevölkerung und weitere Aufwände für die Volkswirtschaft, zum Beispiel IV- oder Arbeitsausfallkosten, ermittelte die Studie nicht.
Ihre Neuauflage im Jahr 2010 verzichtete auf eine Erhebung der persönlichen Kosten. Doch zeigte sie: In diesen zehn Jahren erhöhte sich die Zahl der chronisch gestressten Erwerbstätigen um rund 30 Prozent. Entsprechend dürften auch die Ausgaben weiter gestiegen sein.

Weitere Zahlen:

  • Das Bundesamt für Gesundheit schätzt die monetären Belastungen durch stressbedingte, berufsassoziierte Gesundheitsstörungen auf jährlich rund zehn Milliarden Schweizer Franken.
  • Gemäss einer gross angelegten Studie mit 5000 Mitarbeitenden aus verschiedenen Schweizer Unternehmen sind Personen mit einem hohen Stresslevel um bis zu zehn Prozent weniger produktiv als Personen mit einer ausgeglichenen Belastung. Dieser Produktivitätsunterschied beträgt bis zu 8000 Franken pro Jahr und betroffenem Mitarbeitenden.
  • Die OECD bezifferte im Jahr 2014 die Kosten psychischer Probleme für die Schweizer Wirtschaft – durch Produktivitätsverluste, Gesundheitsversorgung und soziale Ausgaben – auf jährlich zirka 19 Milliarden Schweizer Franken. Das sind 3,2 Prozent des BIP.
  • Gemäss Hochrechnung haben medizinische Behandlun gen und der Erwerbsverlust einer von Mobbing oder Bossing betroffenen Person einen Preis von 34 000 Franken im Jahr, für alle Opfer in der Schweiz sind das circa 6,5 Milliarden Franken.
  • Ein Unternehmen kostet ein Mobbingoder Bossing-Fall ungefähr ein Jahressalär der betroffenen Person. Abfindungs- und Schadenersatzzahlungen sowie die schwer bezifferbaren Imageschäden nicht eingerechnet werden die Schweizer Unternehmen so mit rund 7,5 Milliarden Franken belastet.
  • Man geht davon aus, dass 30 bis 50 Prozent der Krankheiten BAGS sind.
  • Jeder fünfte Schweizer leidet an Depressionen.
  • Im Jahr 2005 zahlte die Stadt Lausanne 800 000 Franken Schadenersatz an ein Mobbing-Opfer.
  • In keinem anderen OECD-Land gibt es so viele Psychiater wie in der Schweiz.
  • Von 2006 bis 2010 hat die Zahl der in ambulanten Praxen behandelten Patientinnen und Patienten um knapp neun Prozent zugenommen, in psychiatrischen Praxen um rund 18 Prozent.
  • Durch gezielte gesundheitsfördernde Intervention können die Anzahl von Fehltagen bei Personen mit hoher Stressbelastung um 1,7 Tage pro Jahr und Mitarbeitendem gesenkt und die Leistungsfähigkeit und Produktivität erhöht werden.

Die OECD bezifferte im Jahr 2014 die Kosten psychischer Probleme für die Schweizer Wirtschaft auf jährliche 19 Milliarden Schweizer Franken.

Wie diese Kosten entstehen
Psychosoziale Belastungen führen zu Symptomen, die aus der Stress- und Mobbingforschung lange bekannt sind. Auf der körperlichen Ebene gehören dazu beispielsweise starke Verspannungen, Müdigkeit, psychosomatische Funktionsstörungen vor allem im Bewegungs- und Magen-Darm-Bereich, Kopfschmerzen, Migräne, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Hautausschläge oder Tinnitus. Psychische Symptome sind unter anderem starke Gereiztheit, Nervosität, andauernde Müdigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen mit stark reduzierter Leistungsfähigkeit, Schlafstörungen, Albträume, Angststörungen, Selbstzweifel, Scham- und Schuldgefühle, Depressionen, Substanzmissbrauch, erhöhter Medikamentenkonsum, traumatische Belastungsstörungen, Persönlichkeitsveränderungen, Verunsicherungen, Selbstwertkrisen, Misstrauen bis hin zu paranoiden Gedankengängen sowie Selbst- und Fremdgefährdung durch Suizid oder Amoklauf.
Das ist ein langer Satz und die Tatsache, dass sich der Leser vermutlich nicht mehr an die ersten genannten Symptome erinnern kann, ist vielsagend. Es gibt Unmengen davon.

Geld spielt keine Rolle
Solche Symptome kosten eine Menge. Jedoch scheint das viele Unternehmen nicht zu beeindrucken und Geld keine Rolle zu spielen. Sie stellen neue Mitarbeitende ein und die Krankheitskosten des oder der Betroffenen zahlen die Krankenkassen. Für ein Symptom wie Schlafstörungen gibt es Schlafmittel, welche die Krankenkassen decken. Die Lohnausfälle übernehmen die Taggeld-, Arbeitslosen- und schliesslich die Invalidenversicherungen – oder Sozialämter.
Auch wenn die BAGS aufgrund der Vorgaben des Unfallversicherungsgesetzes zur Anerkennung von Berufskrankheiten nicht als Berufskrankheiten anerkannt werden, veranstaltet beispielsweise die Suva seit 2002 jährlich ein nationales Diskussionsforum über BAGS, denn sie sind aufgrund ihrer Verbreitung und der damit verbundenen persönlichen Konsequenzen und Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz für die betroffenen Mitarbeitenden, die Unternehmen und die Gesellschaft ein wichtiges Thema.
Die Suva berücksichtigt bei ihren Schätzungen die indirekten Lohnkosten und kommt pro Tag auf 600 Franken, was bei 1,7 Krankheitstagen eine Ersparnis von 1020 Franken pro Mitarbeitendem und Jahr ergeben würde. Dennoch wird bislang bei der Erstellung und dem Management von Arbeitsinfrastrukturen sowie Arbeitsabläufen selten von Beginn an das Hauptaugenmerk auf die Gesundheit und insbesondere das psychische Wohlbefinden der Mitarbeitenden gelegt. Gerichtsurteile machen in den letzten Jahren die Arbeitgeber für Folgeschäden von Stress und Mobbing vermehrt haftbar.
Krankenkassen sowie Taggeld-, Arbeitslosen- und Invalidenversicherungen sind zwar nicht vergleichbar mit Unfallversicherungen, doch könnten sie sich durchaus von ihnen inspirieren lassen. Bei der Wiedereingliederung von Unfallopfern
sind wir heute weit, denn dort arbeiten Ärzte, Psychotherapeuten, Versicherungen und Unternehmen kooperierend zusammen. In Sachen Krankheit gibt es diese Kooperation bezüglich Wiedereingliederung am Arbeitsplatz und in den Arbeitsmarkt erst ansatzweise. Behandlungen mit dem Ziel, die Betroffenen bei der Rückkehr an ihren Arbeitsplatz zu unterstützen, sind noch nicht sehr verbreitet. Ebenso fehlt eine Verbindung zwischen den Gesundheits- und Arbeitsvermittlungsdiensten sowie zwischen dem Arbeitsplatz und dem medizinischen Fachpersonal. Wenn man sieht, wie wenig die Sozialversicherungen, Ärzte und die Unternehmen miteinander reden, dann scheint Geld auch für sie keine Rolle zu spielen – zumindest noch nicht.

Die Lohnausfälle übernehmen die Taggeld-, Arbeitslosen- und schliesslich die Invalidenversicherungen – oder Sozialämter.

Geld spielt eben doch eine Rolle
Denn betrachten wir die hohen und künftig weiter steigenden Kosten für die Versicherungen und die Gesellschaft, spielt Geld eben doch eine Rolle. Die monetären Belastungen werden durch das Weiterreichen an die nächste zuständige Versicherung weder kleiner noch verschwinden sie. Schliesslich tragen die Gesellschaft und die Volkswirtschaft die Folgen durch erhöhte Ausgaben der Sozialversicherungen. Die Aufwendungen der kommunalen Sozialämter steigen und die Gemeinden beginnen sich dagegen zu wehren – auch weil sie deshalb die Steuersätze erhöhen müssen, was wiederum jeder einzelne Bürger mitfinanziert. Also müsste ein gemeinsames Interesse da sein, vom Einzelnen über die Unternehmen und die Versicherungen bis hin zur gesamten Gesellschaft und Volkswirtschaft, zu den jeweils eigenen Gunsten.
Psychosoziale Belastungen sind übrigens auch für den jeweiligen Betrieb teuer. Denn: Betroffene können sich kaum mehr konzentrieren, die Effizienz und die Arbeitsleistung nehmen laufend ab und die Kreativität sinkt auf den Nullpunkt. Fehlzeiten nehmen zu, ebenso die Arztbesuche und das Suchtverhalten rund um Schlaf- und Beruhigungsmittel oder Substanzen wie Alkohol und andere Drogen. Das alles erhöht die Fehlerquote und die Unfallrate.
Die krankheitsbedingten Fehlzeiten und Lohnfortzahlungen sowie erhöhte Versicherungsprämien verursachen direkte Kosten. Die Mehrbelastung der verbleibenden Mitarbeitenden durch Überstunden sowie Produktionsstörungen, Produktionsausfälle und Qualitätseinbussen sind ebenfalls teuer. Hinzu kommen arbeitsorganisatorische Probleme, entgangene Gewinne wegen fehlender Umsetzung von Marktchancen, Konventionalstrafen durch verspätete Lieferungen oder Bereitstellungen von Leistungen, die Arbeitszeit von Führungspersonen für Sitzungen zur Besprechung des individuellen Falles, die Rechtsberatungen, Anwalts- und Gerichtskosten, Honorare für externe Berater und bei Rechtsbrüchen auch Entschädigungszahlungen.
Noch teurer ist die Fluktuation in einem solchen Betrieb. Die nicht direkt beteiligten Mitarbeitenden leiden unter den herrschenden Spannungen und dem schlechten Betriebsklima genauso. Früher oder später werden auch sie das Unternehmen verlassen. Für die häufigen Personalwechsel, Stelleninserate, Bewerbungsverfahren und die Einarbeitung neuer Mitarbeitender zahlen Unternehmen einen hohen Preis. Durch den Austritt von qualifiziertem Personal geht zudem viel Know-how verloren und die in deren Fortbildung investierte Summe ist quasi in den Sand gesetzt.
Die indirekten Kosten sind unter Umständen ein Vielfaches höher. Ein schlechtes Betriebsklima blockiert und lähmt die Zusammenarbeit und Kooperation, was sich negativ auf die Arbeitsqualität und -quantität und so auf das Betriebsergebnis auswirkt. Die Abnahme der Leistungsbereitschaft und der Kreativität, ein fehlendes Engagement für das Unternehmen oder ein Verhalten, das die Kundschaft vergrault, das alles schlägt zusätzlich zu Buche. Der Imageschaden, den ein Unternehmen dadurch erleidet, hat gravierende Folgen.
Geld spielt also sehr wohl eine Rolle. Doch sich mit den Fehlern im eigenen Betrieb zu beschäftigen, kann enorme Dynamiken auslösen. Viele Unternehmen wollen damit nichts zu tun haben.

Wenn man sieht, wie wenig die Sozialversicherungen, Ärzte und die Unternehmen miteinander reden, dann scheint Geld auch für sie keine Rolle zu spielen – zumindest noch nicht.

Paradigmenwechsel gefordert
Klaus Schiller-Stutz, ein renommierter Psychotherapeut, Fachpsychologe und Stressmanager, fordert einen Paradigmenwechsel zu präventiven gesundheitsfördernden Massnahmen wie indirekten Analysen von strukturellen und organisatorischen Arbeitsabläufen in Betrieben sowie Beratungen und Therapien in ganzheitlichem Sinne, nach dem biopsychosozialen Modell: Was fördert das Wohlbefinden und stärkt die Gesundheit? Die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität der Angestellten sollte mit einem Fehler-/Risiko- sowie einem Disability- und Diversity-Management statt einer Nullfehlertoleranz im Zentrum einer Unternehmenskultur stehen, was sich mittel- und langfristig auch monetär positiv auswirkt. Krankheit und Gesundheit sollten nicht als ein Zustand definiert, sondern als ein dynamisches Geschehen betrachtet werden. So gesehen muss Gesundheit in jeder Sekunde des Lebens geschaffen werden.
Zudem seien eine bessere Koordination, eine interdisziplinäre Zusammenarbeit – wie sie die Strategie Gesundheit 2020 des Bundesrats fordert – und eine Aufsichtspflicht bei Krankenkassen dringend notwendig. «Wer weiss schon, dass die Invalidenversicherung Früherfassungsmassnahmen hat? Die IV kommt viel zu spät ins Spiel. Man müsste mit gesundheitsfördernden Interventionen die strukturellen, organisatorischen Arbeitsabläufe analysieren und Anpassungen im Betrieb vornehmen – auch bezüglich der Rollen, Funktionen und fachlichen Kompetenzen der Angestellten», sagt Schiller-Stutz. Der Dialog unter Fachleuten müsse unbedingt besser werden. Nur eine ganzheitliche Betrachtung und Betreuung könne Ausfälle reduzieren und Wiedereingliederungen erleichtern. Viele Ärzte und medizinische Fachpersonen seien dazu bereit. Viele seien es aber auch noch nicht. Hinzu komme, dass die Kantone unterschiedliche Gesetzesgrundlagen und eigene Hoheitsgebiete hätten. Und Macht sei noch wichtiger als Geld. «Aber eigentlich ist Gesundheit ja in jedem Kanton dasselbe. Es geht um Menschen.»

 

DAS BUCH ZUM THEMA
Dieser Beitrag basiert teilweise auf Zahlen und Aussagen aus dem Buch Mobbing und Arbeitsplatzkonflikte. Psychosozialen Stress erkennen – Konflikte konstruktiv lösen – Vorbeugen mit Betrieblicher Gesundheitsförderung sowie auf Gesprächen mit dessen Autor Klaus Schiller-Stutz. Das Buch beschreibt – mit Hinweis auf aktuelle Literatur sowie Studien aus der Schweiz, Deutschland und der EU – die verschiedenen Ursachen und Verläufe von Arbeitsplatzkonflikten, (psychosozialem) Stress, (Cyber-)Mobbing, Bossing, sexueller Belästigung, Whistleblowing und deren Auswirkungen auf Angestellte, Teams, Betriebe, Wirtschaft, Gesellschaft und Sozialversicherungen. Hilfreiche Checklisten dienen der Erkennung von potenziellem psycho -sozialen Stress sowie von Mobbing. Ferner werden präventive Massnahmen zum Stressabbau und gesundheitsfördernde Interventionen sowie Beratungskonzepte zur konstruktiven Bewältigung von Arbeitsplatzkonflikten, Mobbing und zur Wiedereingliederung am Arbeitsplatz/im Arbeitsmarkt aufgezeigt. Kurz: ein Beitrag für menschlichere Arbeitsbedingungen sowie mehr Leistungsfähigkeit und Produktivität mit BGF und BGM in der beschleunigenden Wirtschaft.
Eine Rezension dieses Buches findet sich unter http://psyche-und-arbeit.de/?page_id=3240).
Ein Bestellformular sowie weitere Publikationen und Informationen finden sich unter www.schiller-stutz.ch.
Zürich: ALMA Medien AG; www.missmoneypenny.ch; Oktober 2014, 61 Seiten.

 

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Veröffentlicht in der Fachzeitschrift “Safety-Plus” (Februar 2015).

Bild: Kurt Michel / pixelio.de