Verbale und körperliche Gewalt sind im Gastgewerbe leider keine Seltenheit. Der umtriebige Zürcher Gastronom Erik Haemmerli erlebte zwei dramatische Vorfälle, die ihn noch heute beschäftigen.

Zwischen den beiden Ereignissen liegen nur 18 Monate. Zuerst ging eine Mitarbeiterin des Restaurants Fischstube nach getaner Arbeit mit ihrem Serviceportemonnaie in die Garderobe. Auf diesem Weg griffen sie zwei Jugendliche an, belästigten sie sexuell und beraubten sie. Die Täter wurden nie gefasst.
Dann randalierte ein Zürcher Gemeinderat im Restaurant Bederhof. Er wollte mit seiner Zigarre und seinem eigenen Glas Wein ins Restaurant, bedrohte den Barchef und einen Gast massiv und fuchtelte mit einen gefährlichen Gegenstand herum. Er prahlte mit seiner Position, er sei ein Volkstribun und er sei mit dem Polizeichef der Stadt per Du – und er würde den Barchef fertigmachen.
Erik Haemmerli betreibt sowohl die Fischstube am Zürichhorn als auch den Bederhof im Zürcher Stadtkreis Enge. Als der Gemeinderat ausrastete, war Haemmerli nicht im Haus. Doch für seine Mitarbeitenden ist er rund um die Uhr erreichbar. Zwei Mal rief ihn der Barchef an und schilderte, was gerade passierte. Haemmerli sagte ihm, er solle die Polizei rufen.

Männer und Alkohol
„Wer Gewalt anwendet, tut dies meistens nicht zum ersten Mal“, sagt Markus Atzenweiler, Präventionsberater und Sicherheitstrainer der YourPower Kriminalprävention AG und Mitgründer des Verbands Sicherheits Arena Schweiz. „Diese Menschen dachten schon oft über ihren Einsatz nach und sehen sie als probates Mittel, um sich Respekt, Gehör oder einen ganz bestimmten Erfolg zu verschaffen. Sie nutzen Gewalt als eine Form von Kommunikation. Wer schlägt, dem gehen die verbalen Argumente aus.“
Das sagt auch Jérome Endrass, der stellvertretende Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes im Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich: „Typische Auslöser gibt es nicht. Gewalt hat vor allem mit den Persönlichkeiten zu tun. Manche haben eine kurze Zündschnur, manche finden Gewalt legitim, manche finden sie sogar attraktiv. Das Alter und das Geschlecht sind ebenfalls relevant, junge Männer sind die riskanteste Gruppe. Im Gastgewerbe kommt dann noch ein Faktor hinzu: Der Alkohol.“

Angst, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit
Der Barchef im Bederhof alarmierte die Polizei. Diese steckte den Gemeinderat in Untersuchungshaft. Davon erfuhr die Boulevard-Presse und am nächsten Tag meldete sich ein bekanntes Blatt und fragte, ob es mit dem Barchef sprechen dürfe. Haemmerli erlaubte es. „Das würde ich nie mehr machen“, sagt er. „Heute würde ich die Kommunikation ausschliesslich über mich laufen lassen.“ Denn der Barchef fand sich plötzlich auf der Titelseite des Blatts wieder. Der Vorfall war eine Top-Story, was nun auch alle anderen Mitarbeitenden verängstigte und überforderte. Ab diesem Moment zog Haemmerli die ganze Geschichte an sich und verwies nur noch auf die laufenden polizeilichen Untersuchungen. „Das war wie eine Betonmauer, durch die niemand mehr gelangte“, sagt er. Doch lauerten jetzt allerlei Reporter vor dem Bederhof herum, echte und solche mit gefälschten Presseausweisen.
Für den Barchef wurde dadurch nichts einfacher. „Er ist ein junger Wilder aus dem Zürcher Nachtleben und ein hervorragender Barchef“, sagt Haemmerli. „Er ist aber auch ein sensibler Mensch und hatte zuvor nie Ärger mit Gästen.“ Er bekam es mit der Angst zu tun, der Gemeinderat würde seine Drohungen wahrmachen. Er hatte Kopfschmerzen, konnte nicht mehr schlafen, wurde krankgeschrieben und fiel zwei Monate lang aus. Dann setzte ihn Haemmerli in der Old Fashion Bar ein, einem weiteren Betrieb unter seiner Leitung. „Durch diesen Kulissenwechsel konnte er die Geschichte besser verarbeiten“, sagt er. „Hätten wir diese Möglichkeit nicht gehabt, ich weiss nicht, was aus ihm geworden wäre.“

Schuldgefühle
Erst nach einem halben Jahr arbeitete der Barchef wieder im Bederhof. Doch gab er sich noch immer selber die Schuld für den Vorfall und meinte, er hätte anders reagieren sollen. Diese Sache sei doch schlechte Werbung für das Restaurant. Haemmerli sagte ihm stets, dass er alles richtig machte, so wie es in den Hausregeln stehe und so, wie er es von seinen Mitarbeitenden verlange.
„Es bleibt meistens etwas Ungutes zurück und häufig verbinden das die Opfer mit eigener Inkompetenz“, sagt Atzenweiler. „Sie haben das Gefühl, nicht zu genügen und selber Schuld zu sein. Viele bleiben mit der Situation alleine und sprechen nicht darüber. Das ist gefährlich. Es darf ihnen deshalb nie als Schwäche ausgelegt werden, wenn sie mit einem solchen Problem zum Chef kommen. Dass dieser festlegt, wie mit dem Thema Gewalt umgegangen wird, ist wichtig und hat viel mit einer guten Sicherheitskultur zu tun. Die Mitarbeitenden müssen wissen, dass Grenzüberschreitungen und Persönlichkeitsverletzungen nicht toleriert werden und dass der Chef informiert werden will, wenn etwas passiert.“
Ob die Polizei gerufen werden soll, entscheidet die Situation und letztlich der oder die Betroffene selber. Eine Tätlichkeit, eine einfache Körperverletzung oder eine Drohung braucht immer einen Strafantrag und den kann nur das Opfer stellen. Doch sagt jemand, er hole jetzt eine Waffe, muss sofort die Polizei auf den Platz. „Damit ist nicht zu spassen und wer so droht, landet sehr schnell in Untersuchungshaft“, sagt der ehemalige Polizist Atzenweiler.

Mitarbeitende schützen und vorbereiten
Wie der Barchef des Bederhofs hatte auch das Personal der Fischstube nach dem Angriff auf ihre Kollegin enorm Angst. Die weiblichen Angestellten wollten nicht mehr dort arbeiten. Da die Polizei erklärte, sie könne nicht andauernd vor Ort sein, verpflichtete Haemmerli einen Sicherheitsdienst. Der patrouillierte in der Umgebung und schulte die Angestellten. „Das kostete uns rund 30’000 Schweizer Franken“, sagt er. „Dieses Geld muss man erst einmal haben.“ Heute tragen alle seine Angestellten stets ein Handy auf sich und wissen genau, wie sie reagieren und wann sie die Polizei rufen müssen. „Wir schnürten ein enges Paket, wie wir uns in solchen Situationen verhalten. Dadurch fühlen sich meine Leute stärker abgesichert. Sie schätzen es sehr, wenn sie merken, dass der Chef sie ernst nimmt.“ Haemmerli stellte zudem eine goldene Regel auf, dass in seinen Betrieben nie eine weibliche Mitarbeiterin alleine ist. „Erfahre ich, dass diese Regel verletzt wurde, gibt es einen schriftlichen Verweis“, sagt er.
Endrass und Atzenweiler unterstützen die Reaktion des Gastronomen. „Schwere Gewalt hat meistens Vorzeichen. Deshalb ist es wichtig, dass man jede Form von Drohungen schnell zur Anzeige bringen kann“, sagt Endrass. „Es darf keine Toleranz für Gewalt und rechtsfreie Räume geben. Man soll und darf früh Grenzen setzen. Dafür sind klare Richtlinien und eingespielte Abläufe wichtig, die allerdings auch gelebt und umgesetzt werden müssen. Das klingt banal, ist aber gar nicht so einfach.“
Atzenweiler ergänzt: „Drohungen führen zu einem Machtverhältnis und daraus entsteht dann ein Angriff. Wird diese Dynamik früh verhindert, wird ein Angriff unwahrscheinlicher. Doch das muss trainiert, verinnerlicht und während einem Ereignis sofort und von alleine ausgelöst werden.“ Er schult in seinen Kursen sowohl verbale als auch körperliche Signale, die entschärfend wirken: Aufstehen, zwei Schritte zurück gehen, die Hand erheben und Stopp sagen, man wolle, dass der Drohende aufhöre. Die erhobene Hand schützt auch physisch vor einem möglichen Schlag.

Die Aufarbeitung
Eine Gewalttat, ob verbal oder handgreiflich, muss aufgearbeitet werden. Ein schablonenhaftes Debriefing für alle Mitarbeitenden erachtet Endrass jedoch als wenig sinnvoll: „Jeder reagiert anders auf ein solches Ereignis. Man weiss aus der Trauma-Forschung, dass die individuelle Vorbelastung entscheidend ist. Also muss man auf die Einzelfälle eingehen.“ Atzenweiler stimmt dem zu. Man müsse mit den Mitarbeitenden sprechen und sie wieder aufbauen. Dass es ihnen in den ersten drei oder vier Tagen nicht gut ginge, sei normal. Ein professionelles Debriefing brauche aber nur, wer traumatische Reaktionen zeige. Diese erkenne man weitgehend über drei Fragen:
1. Können die Betroffenen schlafen?
2. Müssen sie dauernd an den Vorfall denken?
3. Gibt es eine Vermeidungshaltung – sprich, können sie nicht zur Arbeit kommen, weil sie sich nicht mehr an den Tatort trauen?
Der drohende oder prügelnde Gast selbst kann viel zur Aufarbeitung beitragen. Kennt man ihn, kann und soll man ihn mit dem Ereignis konfrontieren, eine Entschuldigung verlangen und damit eine Versöhnung einleiten.

Die fehlende Entschuldigung
Die beiden Vorfälle beschäftigen Haemmerli noch immer sehr. Besonders jener im Bederhof: „Wir haben an Zeiten offen, die keinen Gewinn versprechen. Das haben wir, weil wir mit diesem Restaurant eine Art Quartier-Psychologe sein möchten. Hier findet man Menschen und Lösungen. Genau dies ist die Ironie des Schicksals. Der Gemeinderat war einsam und wollte unter die Leute, führte das ganze Konzept aber ad absurdum.“
Auf eine Entschuldigung warten Haemmerli und der Barchef noch heute. „Ich hätte gedacht, dass der Mann hin steht und sagt, dass es ihm leid tut – ob medienwirksam oder nicht. Das lernen doch schon Kinder. Wenn man Mist baut, geht man hin, lässt die Hosen runter und entschuldigt sich.“

 

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Veröffentlicht in der Fachzeitschrift „gastrofacts businessmagazin“ (Mai 2015).

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