Der Produktionsstandort Schweiz steht unter massivem Druck. Und das nächste Risiko wartet bereits: Die Industrie 4.0 wird massive Veränderungen mit sich bringen. Für Hans Burger ist sie aber nicht nur ein Risiko, sondern auch eine grosse Chance.

Hans Burger ist Head of department, Standards and Systems bei LafargeHolcim und Vorstandsmitglied des Verbands fmpro. Im Interview spricht er über den Produktionsstandort Schweiz, über die Notwendigkeit, sich mit dem Thema Industrie 4.0 zu beschäftigen und über deren Auswirkungen auf die Instandhaltung.

In der Schweiz und besonders in der Schweizer Instandhaltungsbranche wird noch nicht viel über die Industrie 4.0 gesprochen. Können Sie uns ein Beispiel geben, das deren Notwendigkeit gut aufzeigt?
Ein Beispiel ist die Stromproduktion: Wir produzieren sehr viel Strom, befinden uns aber auch in einem extremen Umbruch, steigen höchstwahrscheinlich aus der Atomstromproduktion aus. Ob es nun aber um Atomkraftwerke oder um teils veraltete Wasserkraftwerke geht, wir müssen diese Anlagen modernisieren und instandhalten. Hier kommt die Industrie 4.0 ins Spiel. Ein anderes Beispiel: wir haben das dichteste Schienennetz der Welt, was eine riesige Herausforderung für die Instandhaltung ist. Es ist weniger schwierig, Züge auf die Schienen zu bringen, als Züge und Schienen dazwischen angemessen zu warten. Hierfür braucht es neue Ansätze und die versprechen wir uns von der Industrie 4.0.

Also geht es vor allem um grosse Organisationen und Unternehmen?
Nein, das Thema ist speziell für KMU äusserst interessant. Grosse Industrien beschäftigen sich schon mehr damit, kleinere und mittlere Unternehmen haben jedoch noch sehr wenig bis gar nichts in diese Richtung unternommen. Und in der Schweiz gibt es ganz besonders viele KMU. Für sie ist es häufig wirtschaftlicher, Produktionen ins Ausland auszulagern. So werden wir im Endeffekt zum Dienstleistungsstaat. Die Produktion ist aber nach wie vor ein Grundelement einer gesunden Wirtschaft und um diese wieder ins Land zu holen, braucht es neue Ideen. Wir müssen darauf achten, dass wir auch in einem Hochlohnland zu sinnvollen Kostenstrukturen produzieren können.

Inwiefern hat die Industrie 4.0 denn Auswirkungen auf die Instandhaltung?
Die Maschine im Allgemeinen nimmt zu, die Komplexität der Maschinen auch, und irgendjemand muss das schliesslich auch instandhalten. Das braucht Ressourceneffizienz, durchgängige Transparenz, Flexibilität und globale Optimierung. Letzteres umfasst auch die Fernwartung und den Erfahrungsaustausch. Die Instandhaltung braucht nicht mehr den hochbegabten Techniker, der alles kann, sondern jenen, der die Grundprinzipien versteht und die Probleme dann mithilfe des Internets und der Vernetzung löst. So wird er schnell. Man wird also Fachleute zusammenziehen müssen, europaweit, weltweit. Hier kommt die Fernwartung ins Spiel und das Internet bietet die Basis dazu. Das sind die Dinge, die die Industrie 4.0 und die Instandhaltung prägen werden. Die Vernetzung ist das Kernstück dieses Themas.

Es geht uns in der Schweiz sehr gut, alles funktioniert. Wir könnten doch auch abwarten und etwas später auf den Zug aufspringen. Weshalb müssen wir uns unbedingt mit der Industrie 4.0 beschäftigen?
Es geht um die Existenz der Schweiz! Wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Wenn wir als Hochlohnland in der Herstellung von Produkten konkurrenzfähig sein wollen, müssen wir komplett neue Wege gehen und uns alle Mittel zunutze machen. Der Druck von aussen ist gross. Die Welt holt auf, in hoher Geschwindigkeit. In Indien versucht die Regierung von unserem dualen Bildungssystem zu lernen. Ein Zementwerk in Asien oder Lateinamerika ist viel moderner als eines hier, es arbeitet kostengünstiger und energiewirtschaftlicher. Eine Produktionsstätte in Lateinamerika, China und Osteuropa unterscheidet sich überhaupt nicht von einer in der Schweiz. Es wird die gleiche Anzahl Maschinen hergestellt, mit der gleichen Anzahl Mitarbeitender, die von den Firmen gleich ausgebildet werden. Nur sind die Kosten in China massiv tiefer als in der Schweiz. Also müssen wir etwas bieten und aus traditionellen Mustern ausbrechen. Wir brauchen Differenzierungsmerkmale, die einen Preisunterschied rechtfertigen können. Die Flexibilität und die Kreativität, die der einzelne Mensch in jeder Position einbringt, das haben die anderen erwähnten Länder noch nicht und das müssen wir ausnutzen. Auch Themen wie die Grundausbildung und die Disziplin, die leider auch bei uns langsam verschwindet, sprechen noch für uns. Dazu müssen wir Sorge tragen. Und wir haben noch immer einen gewissen Zeitvorsprung. Wir müssen das alles nur richtig bündeln. Aber wir dürfen nicht meinen, wir seien eine unantastbare Insel. Wir müssen uns bewegen, andauernd an uns arbeiten, vorausschauen. Entweder wir springen rasch auf den Zug der Industrie 4.0 auf oder wir verlieren den Wettbewerb. Die Gefahr überrollt zu werden ist gross. Trotzdem schlafen wir noch immer, wenn es um Innovationen geht. Es geht uns noch ein bisschen zu gut und es funktioniert noch immer alles. Dass wir aber sehr nahe am Abgrund stehen, das sehen wir viel zu wenig.

Was heisst Flexibilisierung?
Es geht um die Fähigkeit, mit den Produkten näher an die verschiedenen Kundenbedürfnisse zu kommen. Wir brauchen individualisierte Massanfertigungen von Produkten. Nehmen wir das Beispiel Auto: Der Käufer will die unterschiedlichsten Komponenten nach seinen eigenen Wünschen zusammenstellen. Dafür braucht es Maschinen mit viel Feinmechanik, mit beweglichen Teilen, mit intelligenten Möglichkeiten. Den Arbeiter, der dort steht und das Auto nach Mass anfertigt, den kann man sich nicht mehr leisten. Es braucht Produktionsstätten und Maschinen, die das können. Genau hierfür haben wir in der Schweiz eigentlich auch die besten Grundlagen, müssen aber viel innovativer werden. Für solche Dinge braucht es kreative, innovative Talente.

Haben wir diese Talente?
Im Moment nicht und ich glaube, wir entwickeln sie auch noch gar nicht. Umfragen zeigen, dass der Mehrheit der Unternehmen die Talente fehlen, um auf die Industrie 4.0 zu reagieren. Und es fehlt ihnen die passende IT-Infrastruktur. Diese beiden Faktoren sind für den Transfer zur Industrie 4.0 aber unabdingbar. Es braucht andere Ausbildungen, eine andere Art Fachkräfte. Die Digitalisierung bringt einen ganz neuen Zweig von wichtigen Elementen wie Sensorik oder Programmierung. Und es braucht nicht nur Entwickler oder Programmierer, sondern auch Instandhalter, die alles kalibrieren können. Wir sind in diesen Bereichen nicht besonders stark. Technisch ist zwar vieles da, das dürfen wir auch nicht vernachlässigen, doch die einzelnen Elemente müssten näher zusammenwachsen, wir müssen vernetzter denken und offen sein für ein transparentes Agieren. Wir brauchen Instandhalter, die sich in der Technik auskennen, in der Feinmechanik, aber auch in der IT.

Unser duales Bildungssystem würde eigentlich eine gute Grundlage bieten, diese Talente zu entwickeln.
Die Basis ist gegeben. Die Qualität von Fachleuten ist weltweit sehr unterschiedlich und die Schweiz hat mit dem dualen Bildungssystem, das es heute in dieser Ausprägung sonst fast nirgends gibt, einen grossen Vorteil. Die Stärke der Produkte, die wir schliesslich exportieren, gründet vor allem auf dem Konzept des dualen Bildungswegs. Ob wir dieses Modell aber tatsächlich noch zeitgemäss nutzen, das ist eine andere Frage. Und: In diesem Modell gibt es keine direkte Ausbildung für Instandhalter. Das wird man über eine Zusatzausbildung. Auf dem ersten Bildungsweg, der Berufslehre, gibt es so etwas nicht.

Wer muss denn aktiv werden, um diese Talente zu entwickeln? Politik, Verbände, Bildungswesen?
Die Politik ist ein sehr langsames Medium, das geht zu lange. Das Bildungswesen und die Verbände müssen das machen. Es braucht Aus- und Weiterbildungen in diese Richtung. Hier kann auch der Verband fmpro eine wichtige Rolle spielen. Schlussendlich braucht es aber auch ganz neue Kooperationen, Geschäftsmodelle, sogar neue Gesellschaftsmodelle. Man muss neue Ideen entwickeln. Der Austausch von Erfahrungen, auch weltweit, muss und wird laufend steigen. Das Internet ist prädestiniert dafür.

Wie akut ist es denn? Stehen wir schon unter Zugzwang oder können wir noch proaktiv agieren?
Wahrscheinlich beides. Wenn wir vom Beispiel Schienenverkehr sprechen, ist es relativ akut und dort überlegt man sich bestimmt schon solche Modelle. Niemand hat heute das Kapital für grosse Investitionen, also muss man billiger, effektiver, attraktiver werden. Und das gilt für alle Branchen. Es wird einen Wandel geben, in der Industrie, im Verkehrswesen, in Sachen Infrastruktur und rund um Gebäude. Die Instandhaltung wird dabei immer wichtiger und immer breiter und wir brauchen Fachkräfte, die diesen Herausforderungen begegnen können. Man kann nicht weiter einzelne Probleme lösen, sondern muss das Ganze sehen. Es braucht eine Zentralisierung der Informationen, es braucht wirtschaftliches Denken und es braucht eine gewisse Kreativität. Wir können nicht einfach nur besser werden in dem was wir schon immer machten. Wir müssen neue Wege gehen. Doch ich behaupte: die Schweiz befindet sich in dieser Frage im Tiefschlaf. Trotzdem haben wir noch immer die Möglichkeit, proaktiv etwas zu machen. Dafür braucht es auch den Verband. Wir müssen die Leute wecken.

Veröffentlicht in der Fachzeitschrift „fmpro service“ (Februar 2016).

Zum Original-Beitrag:

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Bild: zVg