Wenn die digitalen Taktgeber über den digitalen Taktfahrplan philosophieren, staunt mancher plötzlich ganz schön.

Sie sagt mir, dass ich im Halbstundentakt nach Brugg komme. Über die App der SBB kaufe ich mir auch gleich ein Ticket. Das Halbtax gibt es erst analog. Ich packe es in die Tasche.
In Brugg steht heute eine Fachtagung auf dem Programm, der Digital Real Estate Summit (DRES) unter dem Motto «Gipfeltreffen der digitalen Taktgeber». Die Digitalisierung ist das Zukunftsthema schlechthin. Auch in der Immobilienbranche. Das sagen alle.
Der Veranstalter hat ebenfalls eine App entwickeln lassen. Sie bietet Anfahrtsplan, Programm, Infos zu den Referenten und ich kann dort meine bevorzugten Parallelsessions auswählen und anzeigen lassen. Ich lade die App unterwegs herunter. Ich checke meine Mails, telefoniere, spiele ein Spielchen. Alles auf dem Smartphone. In Brugg erwartet mich das Tagungssekretariat. Es liegen bunte Zettelchen auf, Raumnummern und Zeit der Parallelsessions aufgedruckt. Obwohl meine App das wüsste, finde ich, bunte Zettelchen könnten nicht schaden. Ich schaue auf dem Smartphone nach, welche Wahl ich traf, und greife mir die passenden Zettelchen. Dann ein bisschen Networking. Ganz analog.

Virtuelle Realität …
Gastgeber Dr. Peter Staub (pom+ Consulting) eröffnet die Fachtagung und outet sich als Fan der Digitalisierung. Dann startet die Vortragsreihe. Inspiration pur. Beispielsweise von Prof. Markus Gross. Dieser Mann ist Leiter des Computer Graphics Laboratory der ETH Zürich und Direktor von Disney Research Zürich. Genau, Walt Disney. Er erzählt, wie wichtig digitale Hilfsmittel rund um den Bau des Shanghai Disneyland sind, des neusten Themenparks des Konzerns. Er geht auf Anwendungen rund um Bauprojekte ein und auf virtuelle Begehungen. Er wagt einen Ausblick, wie sich das klassische TV-Modell verändern wird, seine Formen, die Inhalte, die Spieldauern. Er erklärt, wie Zuschauer künftig ein interaktiver Teil der Animationsfilme sein könnten. «Virtual Reality nennen wir das», sagt Gross, «die Fusion von realen und virtuellen Inhalten. Wir registrieren den Zuschauer räumlich und synchronisieren seine Bewegung mit dem Film. Die Art und Weise, wie wir Geschichten erzählen, verändert sich dadurch grundlegend.»
Die Verschmelzung von Virtualität und Realität. Das klingt für mich ein bisschen wie eine Erfahrung, die der Chemiker Albert Hofmann in einem Buch beschrieb, das ich während dem Gymnasium las. Ich stellte mir das damals schon anstrengend vor und mache das heute wieder.
Auch rund um die Sprache und simultane Übersetzungen gäbe es für ein Unternehmen wie Disney spannende Möglichkeiten. «Das funktioniert aber noch nicht wirklich, dazu braucht es noch mehr künstliche Intelligenz», sagt Gross. Und: «Die Poesie eines Goethe einem Computer verständlich zu machen, das wird wohl nie gelingen. Das soll es vermutlich auch nicht.»

… und vibrierende Realität
Der Handy-Empfang im Tagungsraum ist zwar eher schlecht, aber es gibt hier WLAN und das Passwort dazu erhielt ich vor der Tagung – analog, auf einem weissen Zettelchen. Während jedem Vortrag meldet sich die App. Zwei Mal. «Stellen Sie Ihre Fragen», heisst es. Sie werden am Ende der Vorträge auf der Bühne eingeblendet und von den Referenten beantwortet. Ich bin wenig multitasking. Wenn das Handy surrt, verliere ich rasch den Faden. Ich navigiere mich durch die App, lese die Kurzbiografie von Herrn Professor Gross und merke dann, dass auf der Bühne ganz interessante Themen besprochen würden. Ich stopfe das Handy zurück in den Hosensack und versuche den Faden wieder zu finden.

Was braucht der Markt?
Die nächsten Referenten halten ihre Vorträge unter dem Programmpunkt «Digital Leaders – was braucht der Markt?». Zum Beispiel der moderne Portfolio Manager? «Die richtigen Tools, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können», antwortet Beat Schwaab von der Credit Suisse. «Digital Real Estate ist nicht ‘nice to have’, es ist ‘need to have’. Die Frage ist jetzt nur noch, wie sich das zu Geld machen lässt. Daran muss die Immobilienbranche intensiv arbeiten. Denn es reicht nicht, wenn einzig wir uns digitalisieren. Unsere Partner müssen das ebenso rasch tun, damit die Kette weiterhin funktionstüchtig bleibt.»
Für Stefan Dürig von der Post Immobilien Management und Sevices AG hat diese Kette ganz unterschiedliche Glieder, von der Paketauslieferung durch Drohnen in abgelegene Gebiete über flexible Empfangsadressen bis zu digitalen Briefmarken. «Wir werden die physische und die digitale Welt vermehrt verbinden», prophezeit er, zeigt solche Szenarien in Bereichen des Facility Management auf und spricht über die Predictive Maintenance, in der er grosses Potenzial sieht und die Servicemonteure in der Nacht und an Wochenenden künftig entlasten würde.
Predictive Maintenance sei auch für die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) einer der vielen wichtigen Aspekte rund um die Digitalisierung, bestätigt deren Vertreter Jürg Stöckli. Ausserdem müsse die Branche heute flexibler sein und schnellere, agilere und bessere Produkte bieten. «Innovationen brauchen Zeit», sagt Stöckli. «Doch wir wissen nicht, was in einigen Jahren die Bedürfnisse sein werden. Wenn wir uns wirtschaftlich in neuen Themen bewegen wollen, ist das sehr schwierig. Man kann nicht immer sofort ein Geschäftsmodell haben, sondern investiert in die Zukunft. Man muss versuchen, den Menschen im Fokus zu behalten und dabei agil und flexibel zu sein.»
Agil und flexibel: genau das ist die Stärke eines Cyber-Bewi. Er wird den Hippo killen. Wer jetzt nur Bahnhof versteht, ist nicht etwa beim vorgängigen Referat der SBB hängengeblieben, sondern braucht eine Erklärung von Pascal Staub (Privera). Das Hippo ist die «Highest Paid Persons Opinion», also die Meinung des Bestbezahlten. Der Cyber-Bewi, das ist die neue Generation von Immobilienbewirtschaftern. Sie denkt in Herausforderungen, fordert den Status Quo heraus, ist neugierig und wie erwähnt, agil und flexibel. Pascal Staub ist überzeugt, dass diese Kultur eines Cyber-Bewi im Unternehmen viel erfolgversprechender ist als ein Konzept oder eine Strategie. «Die Kultur frisst die Strategie zum Frühstück», sagt er. «Kodak verpasste die digitale Fotografie, Nokia verpasste das Smartphone. Hier war wohl ein Hippo am Werk. Dinge wie Airbnb kamen aus dem Nichts und krempelten ganze Geschäftsmodelle um. Das waren wohl Cyber-Bewis.»

Was ist möglich?
Dann ist Pause. Was jetzt nötig ist, lässt sich durch die Digitalisierung kaum beeinflussen. Obwohl, wer weiss. Vielleicht hätte ein Cyber-Bewi sogar dazu eine Idee. Nach der Pause beginnen die Parallelsessions. Ich zücke App und Zettelchen, die mir beide sagen: Meine Sessions drehen sich um das Smart Home.
Die beiden Referenten Martin Vontobel (ABB) und Balz Halter (Halter AG) erzählen, dass heute schon vieles umsetzbar ist und weshalb viele es noch nicht umsetzen. Vontobel erklärt, welche Vorteile ein Smart Home beispielsweise für das Wohnen im Alter haben könnte. Das hat Potenzial. Denn nicht nur die Digitalisierung wird immer mehr, auch die Alten werden immer mehr. «Mit dem Smart Home ist es ein bisschen wie mit dem Smart Phone», sagt dann Balz Halter. «Früher telefonierten wir mit dem Handy, heute ist es eine vernetzte Plattform, auf der wir beliebig viele Apps nutzen können. Ein gutes Smart Home muss ebenfalls über eine solche digitale Infrastruktur verfügen, eine Art Betriebssystem, auf dem sich beliebig viele Funktionen nutzen lassen.»

Roboter und Politik
Den nächsten Vortrag im Plenum hält Professor Roland Siegwart von der ETH Zürich. Er lässt die Teilnehmer an seiner Begeisterung für die Robotik teilhaben und stellt eine Fülle an aktuellen Projekten, Forschungen und Einsatzszenarien vor. Dabei geht er sowohl auf die Chancen für den Standort Schweiz, als auch auf Grenzen und Risiken dieser Entwicklung ein. Und er bremst die Erwartungen des begeisterten Publikums: «Von Cyborgs sprechen wir noch lange nicht. Wir sind sehr weit weg davon, dass Roboter die gleichen Möglichkeiten und Fähigkeiten haben wie ein natürliches Wesen. Es ist ein langsamer Prozess.»
Langsame Prozesse kennt Pascale Bruderer gut. Die Ständerätin für den Kanton Aargau erzählt, welche Aspekte der Digitalisierung im Bundeshaus derzeit besprochen werden. Neben der mässig erfolgreich angelaufenen elektronischen Stimmabgabe, dem Dauerthema eHealth oder der Überarbeitung des veralteten Datenschutzgesetzes scheint die Digitalisierung in Bern noch nicht den Takt anzugeben.
Dabei kommt auf die Politik noch viel zu. Wenn wir davon sprechen, dass die Digitalisierung viele Arbeitsplätze und Berufsbilder rasch grundlegend verändern oder gar ersetzen wird, dürften wir bald gesellschaftliche und politische Herausforderungen zu lösen haben, die wir uns derzeit noch kaum vorstellen können.

Die Evolution der Revolution
Nach der Tagung finde ich über die SBB-App meine Verbindung nach Hause, erledige einige Rückrufe und bemerke dann mit Schrecken: noch vier Prozent Akku. Trotzdem lese ich im Zug meine Mails. In Zürich ist der Akku leer. Geriete ich nun in eine Billetkontrolle, würde es schwierig werden. Ich könnte mein Ticket – in der App hinterlegt – nicht vorweisen. Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob das Gipfeltreffen der digitalen Taktgeber für eine gute Entschuldigung reichen würde.
Die Revolution mag zwar begonnen haben. Davon merken wir im Alltag jedoch noch nicht allzu viel. Wir funktionieren noch immer vorwiegend analog. Aber wir sprechen heute ja nicht über heute, sondern über die Zukunft. In ihr wird der digitale Takt wohl immer schneller. In zehn Jahren wird ein Besuch des Digital Real Estate Summit vermutlich ein ganz anderes Erlebnis sein.

Veröffentlicht in der Fachzeitschrift “fmpro service” (Juli 2016)

Bild: Andrea Danti / Fotalia