Arbeitnehmende sollen nach einem Unfall oder einer Krankheit wieder rasch und unkompliziert an den Arbeitsplatz zurückkehren können. Um das zu unterstützen, gibt es in zwölf Kantonen der Schweiz Vereinbarungen zur Zusammenarbeit von Arbeitgebenden, Ärzten und Sozialversicherungen.
: Im Kanton Solothurn spricht man vom Schulterschluss. Im Kanton Graubünden von heisst es Rework. In anderen Kantonen einfach Zusammenarbeitsvereinbarung. Aber es geht immer um das Gleiche: Wirtschaftsverbände, Ärzteschaft und Sozialversicherungen unterschreiben die Absicht, dass sie zusammenarbeiten, um kranke oder verunfallte Arbeitnehmende unkompliziert an den Arbeitsplatz zurückzuführen. Dabei stehen vor allem diejenigen Arbeitnehmenden im Vordergrund, die über längere Zeit arbeitsunfähig sind.
„In der Vergangenheit war die Beziehung zwischen Ärzten und Arbeitgebern oft belastet“, sagt Petra Huwiler, Leiterin der Abteilung Versicherungsleistungen bei der Suva. „Es gab gegenseitige Vorurteile und ein gewisses Unbehagen. Diese Fronten wollen wir auflösen und dafür sorgen, dass alle Beteiligten häufiger und auf konstruktive Art und Weise aufeinander zugehen. Gute Lösungen findet man nur, wenn man aufeinander zugeht. Dafür braucht es gewisse Rahmenbedingungen.“
Vertrauen und Informationsfluss
Aktuell gibt es in zwölf Kantonen solche Vereinbarungen. Manche Kantone sind in dieser Entwicklung schon etwas weiter als andere und manchmal brauchte es zwei oder drei Anläufe, vielleicht auch eine Veränderung an den Spitzen der Wirtschafts- oder Ärzteverbände, um den Ball ins Rollen zu bringen. „Wo der Gedanke der Zusammenarbeit in den operativen Alltag Einzug hielt, beschäftigen sich viele Beteiligte damit und dort merkt man, dass er etwas bewirkt“, sagt Petra Huwiler. „Aber man kann nicht erwarten, dass sich etwas von heute auf morgen verändert. Es geht darum, eine nachhaltige Verhaltensveränderung anzustossen. Das braucht Zeit und Geduld.“
Der Kanton Solothurn gehörte zu den ersten, die eine solche Zusammenarbeit forcierte. Im Jahr 2016 wurde dort die erste Vereinbarung zum interdisziplinären Austausch unterschrieben. Für Karin Fiechter-Jäggi, Geschäftsleiterin der IV-Stelle Solothurn, war es ein entscheidender Schritt, die Herausforderungen der Eingliederung auf Verbandsebene zu lösen. „So schafft man einen Kreislauf, um Vorurteile abzubauen und das Vertrauen und den Informationsfluss aufzubauen“, sagt sie. „Wenn man den Rahmen hat, kann man das auch auf den Einzelfall herunterbrechen.“
Föderalismus als Chance
In jedem Kanton sieht diese Zusammenarbeitsvereinbarung ein bisschen anders aus. „Für mich ist das ein gutes Beispiel eines funktionierenden Föderalismus“, sagt Karin Fiechter-Jäggi. „Wir tauschen uns unter den Kantonen aus, zum Beispiel mit Graubünden. Die Leiter der dortigen IV-Stelle und Suva-Agentur sahen sich unseren Ansatz an und übernahmen ihn – allerdings auf eine etwas andere Art. Sie schufen einen eigenen Brand und eine Homepage. Das möchten nun wiederum wir in Solothurn übernehmen und einen Schritt weitergehen, um Neues auszuprobieren. Wir teilen also eine identische Idee und unsere Ressourcen, um für den eigenen Kanton angepasste Konzepte zu entwickeln.“
Die Kantone sind unterschiedlich organisiert und weisen bestimmte kulturelle Eigenheiten auf. „Eine Zusammenarbeitsvereinbarung muss unter Berücksichtigung dieser Bedingungen und vor allem auch aus eigener Motivation heraus umgesetzt werden“, sagt Petra Huwiler. „Das geht nur föderalistisch. Der erste Schritt ist, das Gegenüber kennenzulernen, die Herausforderungen im Alltag zu definieren und zu erkennen, weshalb die anderen Beteiligten gewisse Dinge auf bestimmte Art und Weise tun. Das schafft Vertrauen, hilft bei der Umsetzung einer pragmatischen Lösung und verhindert, dass eine Vereinbarung zum Papiertiger wird.“
Sozialversicherungen als Vermittler
Dass sich die Suva und die IV-Stellen hier in eine führende Position brachten, hat viel damit zu tun, dass der Eingliederungsgedanke bei diesen beiden Institutionen stark verankert ist. „Auch unsere Neutralität ist wichtig“, sagt Petra Huwiler. „Den ersten Schritt musste jemand machen, der ohne Voreinnahme grosses Vertrauen geniesst. Uns traut man zu, das partnerschaftlich auf einen guten Weg zu bringen. Wir haben als Sozialversicherung die Verantwortung, diese Schnittstellen zu koordinieren. Jeder Mensch, den wir in den Arbeitsprozess zurückbringen, hilft der Volkswirtschaft.“
„IV ist Integration“, sagt Karin Fiechter-Jäggi. „Der Schulterschluss bedeutet aktive Eingliederung Je schneller erkrankte und/oder verunfallte Personen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden, desto besser. Das sind für sie nämlich immer schwierige und verunsichernde Situationen. Wir können jedoch besser integrieren, wenn wir Arbeitgeber und Ärzte zusammenbringen, den Austausch pflegen, miteinander reden und Vorurteile abbauen. Hier können wir als Vermittler tätig sein. Wir merken deutlich, dass von allen Seiten eine grosse Bereitschaft zur Zusammenarbeit besteht. Wir stellen auch fest, dass Arztzeugnisse heute viel klarer auf die Eingliederung fokussiert sind. Die Ärzte wissen, was die IV-Stelle braucht, um die Eingliederungsarbeit so effektiv wie möglich gestalten zu können.“
Physische und psychische Herausforderungen
Wenn es um einen Unfall oder eine rein körperliche Krankheit geht, hat der Genesungsprozess oft eine klarere Struktur. Das macht die Eingliederung etwas einfacher – sofern sich das Problem nicht chronifiziert. „Psychische Herausforderungen beginnen hingegen oft schleichend“, sagt Fiechter-Jäggi. „Die ersten Anhaltspunkte sind nicht Absenzen, sondern oft Veränderungen im Verhalten oder in der Leistung. Deshalb ist es wichtig, dass die Arbeitnehmenden und Arbeitgeber bereits in ein System zur raschen Genesung und Wiedereingliederung eingebettet sind, wenn es zu Absenzen kommt. Eine enge Zusammenarbeit ermöglicht es dann, die Prozesse in geregelten Bahnen laufen zu lassen und es ist allen Beteiligten klar, was sie sagen dürfen. Das verhindert Grabenkämpfe und wir können Vermittlungs- und Übersetzungsarbeit leisten. Tatsächlich erzählen uns Arbeitgeber, dass der Schulterschluss besonders im Bereich der psychischen Erkrankungen einen sehr grossen Unterschied bewirkte.“
Die Früherfassung ist ein starkes Mittel zum Erhalt des Arbeitsplatzes. „Je früher wir aktiv werden können, desto mehr Möglichkeiten haben wir“, sagt Fiechter-Jäggi. „Die Verläufe einer Krankheit oder nach einem Unfall sind nicht immer planbar. Da können wir möglichst rasch Sicherheit durch Klarheit bieten.“ Im Rahmen einer Früherfassung – aber auch in anderen Fällen – wird geprüft, wie weit sich das gesundheitliche Problem auf die Erwerbstätigkeit auswirkt, was für eine IV-Anmeldung relevant ist. Dann rückt der Arbeitsplatzerhalt in den Fokus. „Unsere Fachleute sind angehalten, eine operative Vermittlungsrolle zu übernehmen und möglichst alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen. Hier spielen die Faktoren Vertrauen und Information. An einem runden Tisch haben alle Beteiligten die gleichen Informationen und können Handlungsfelder erkennen. Dann geht es um den Erhalt des Arbeitsplatzes, eine allfällige Umplatzierung oder eine andere Lösung“, sagt Fiechter-Jäggi.
Positive Rückmeldungen
Die Rückmeldungen der verschiedenen Beteiligten sind mehrheitlich positiv. Wenn sie negativ sind, dann verlief eine Erstbegegnung nicht optimal. „Es braucht die richtige Einstellung dafür“, sagt Petra Huwiler. „Stimmt die Grundeinstellung, erlebt man vor allem positive Beispiele.“ Natürlich müsse man auch einige Hürden nehmen. „Man muss sich zuerst darauf einlassen. Es braucht also Menschen, die auf Verbandsstufe dahinterstehen und in dieser Thematik etwas erreichen wollen. Mit ihnen steht und fällt eine solche Zusammenarbeit. Eine weitere Herausforderung ist es, diese Idee präsent zu halten. Dafür ist eine regelmässige Sensibilisierung nötig. Man muss immer wieder aufzeigen, dass es wirkt. Man muss überzeugen, begeistern, mitziehen und diesen Ansatz leben. Wir müssen voneinander lernen, neugierig bleiben und mit Engagement daran weiterarbeiten – im Sinne eines Gewinns für alle Beteiligten sowie für den Schweizer Werkplatz und Gesundheitsmarkt.“
Im Kanton Solothurn hat sich durch den Schulterschluss eine positive Dynamik entwickelt. Manche Arbeitgeber sagen sogar, dass sie die IV-Stelle immer seltener bräuchten, weil sie mit den Ärzten und Arbeitnehmenden viel einfacher direkte Lösungen finden. „Auch ein Arzt weiss, dass eine Genesung besser läuft, wenn das System stabil ist“, sagt Karin Fiechter-Jäggi. „Ein Arzt sucht keine Probleme, er baut Lösungen. Keiner will jemanden krankschreiben, sondern viel lieber behandeln und heilen. Dazu braucht es Stabilität und zu ihr gehört auch der Arbeitsplatz.“
Veröffentlicht in „compasso“
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