Das Risiko, bei einem Elektrounfall das Leben zu verlieren, ist 50-mal höher als bei anderen Unfällen. Deshalb lancierten die Suva und die Elektrizitätswirtschaft eine Präventionskampagne für die Branche und definierten fünf zusätzliche lebenswichtige Regeln.

Die Unfallrate in der Elektrobranche ist weiterhin hoch und wenn es zu einem Unfall kommt, hat er häufig schwere Auswirkungen. Die Kampagne „Sichere Elektrizität“, hat sich zum Ziel gesetzt, dass es keine tödlichen Unfälle und nur noch halb so viele schwere Unfälle geben soll. Roland Hürlimann, Leiter Sichere Elektrizität und Inspektionen beim Eidgenössischen Starkstrominspektorat (ESTI), spricht über den Stand der Kampagne.

Die ersten fünf Sicherheitsregeln kennen alle Elektrofachleute. Oder?
Hürlimann: Die sollte jeder kennen. Wir treffen aber immer wieder Situationen an, in denen sie zu wenig konsequent angewendet werden. Das bestätigt uns auch die Unfallstatistik. Fast die Hälfte der Ereignisse sind darauf zurückzuführen, dass nicht spannungsfrei gearbeitet wird. Die meisten Unfälle geschehen zudem im Niederspannungsbereich, wo die Gefahr offensichtlich unterschätzt wird. Das hat viel mit der Risikowahrnehmung zu tun, wie ernst man die Gefahr nimmt. Wenn nichts passiert, hat man das Gefühl, man sei sicher. Bis es dann doch einmal geschieht und schwere Auswirkungen haben kann.

Wie entwickelt sich die Unfallrate?
Die Zahl der schweren und sogar tödlichen Unfälle ist ziemlich stabil. Die Gesamtzahl inklusive den Bagatellunfällen steigt jedoch laufend und ist relativ hoch. Das könnte auch mit der vermehrten Sensibilisierung zusammenhängen. Wir sind deutlich aktiver als früher.

Unter anderem definierten Sie fünf zusätzliche lebenswichtige Regeln.
Das taten wir zusammen mit der Suva und Verbänden der Elektrizitätsbranche. Die zusätzlichen Regeln sollen die andere Hälfte der Unfallursachen abdecken, wenn man halt nicht spannungsfrei arbeiten kann. Dann wird es nämlich wirklich gefährlich. Darum definierten wir beispielsweise, dass man für solche Arbeiten einen klaren Auftrag braucht und dass man das Risiko beurteilen können muss. Dafür muss man sich ein bisschen Zeit nehmen, nicht viel, aber man muss sich ernsthaft Gedanken machen, woran man gerade arbeitet, was geschehen könnte und wie man sich schützen kann. Die Mitarbeitenden müssen dafür ausgebildet sein, die Gefahr erkennen und auch die Notfallsituationen kennen. Bei einem Elektrounfall braucht es immer Sofortmassnahmen, schliesslich handelt es sich bei den Verletzungen häufig um einen Herzstillstand oder um Verbrennungen. Schlimm sind die Verbrennungen durch Flammbogen, das wird völlig unterschätzt. Ich weiss nicht was wir noch machen könnten, dass den Leuten endlich klar wird, welche Energie da dahinter steckt.

Wie war das Feedback aus der Branche?
Das war unterschiedlich, natürlich gab es auch kritische Stimmen. Klar, wenn man alles vorbildlich macht, braucht es diese Regeln nicht. Aber es ist einfacher, fünf klare Regeln für spannungsfreies Arbeiten und fünf klare Regeln für Arbeiten unter Spannung zu haben, als alle rund 6000 Normen und Verordnungen zur sicheren Elektrizität durchzulesen. Der Aufwand, um die Regeln einzuhalten, ist nicht gross, das Risiko bleibt jedoch immer gleich hoch. Nur die Auswirkungen eines Ereignisses sind variabel, je nachdem wo man gerade steht und welche Energie fliesst. Das kann man nicht planen.

Wo stehen Sie nun in dieser Kampagne?
Wir stehen mittendrin. Im Jahr 2012 starteten wir, nun geht es um die Anwendung. Das läuft noch eher harzig. Wir müssen erreichen, dass jeder Mitarbeitende davon erfährt und vor allem auch, dass sich jeder Mitarbeitende bewusst ist, dass er Stopp sagen soll, wenn es gefährlich wird. Eine solche Sensibilisierung braucht Zeit. Wir schauen uns derzeit vor Ort an, wie das umgesetzt wird. Ungefähr 200 Betriebe haben wir stichprobenartig ausgewählt und besucht und die Mitarbeitenden befragt, ob sie diese Regeln kennen und wie sie sie anwenden.

Was sind Ihre Erkenntnisse?
Verbesserungspotenzial gibt es noch an allen Ecken und Enden und die einzelnen Branchen sind unterschiedlich weit. Am meisten sensibilisiert sind die Netzbetreiber, dort ist auch die Gefahr am grössten. Dann folgen die Industrie und das Gewerbe – noch vor der Elektroinstallationsbranche. Das mag überraschen, doch Industrie und Gewerbe sind dazu angehalten, Betriebselektriker weiterzubilden und das ist eine gute Plattform, um diese Menschen zu erreichen. In der Unfallstatistik 2014 betrachteten wir die Ursachen ein erstes Mal hinsichtlich der lebenswichtigen Regeln und es zeigt sich, dass jede einzelne Regel wichtig ist. Die Ursachen lassen sich fast gleichmässig auf die verschiedenen Regeln verteilen. Ein Ausreisser ist das Erden und Kurzschliessen, diese Regel scheint am schwächsten.

Befolgt man die Regeln nicht, weil der Zeitdruck so gross ist?
Das spielt sicher eine Rolle, ist meiner Meinung nach aber eher ein Thema der Organisation, als dass es für den einzelnen Mitarbeitenden wirklich ein Zeitproblem gäbe. Vielfach sagt man, die Anlage liesse sich nicht abschalten, was aber oft nur aus Bequemlichkeit nicht geht. Das gilt übrigens auch rund um die Persönlichen Schutzausrüstungen. Sie nehmen nun mal etwas Komfort, deshalb ziehen sie viele nicht an. Wichtig ist, dass man die Verantwortlichkeiten regelt. Macht man jemanden von Anfang an für die Arbeitssicherheit verantwortlich, ist es dieser Person besonders wichtig, dass nichts passiert.

Ist es eine Herausforderung, bei Gefahr einfach Stopp zu sagen?
Ja natürlich, das ist vor allem ein Thema der Führungskultur. Dafür braucht es Selbstkritik, man muss dazu stehen und man muss den Mitarbeitenden ernst nehmen. Es gibt immer wieder Situationen, in denen nicht von Anfang an klar ist, was zu tun ist. Und es gibt Überraschungen. Dann muss man einfach Stopp sagen. Auch die Gruppendynamik unter den Mitarbeitenden kann eine Rolle spielen. Sie lässt sich ebenfalls positiv beeinflussen, wenn man jemanden direkt für die Arbeitssicherheit verantwortlich macht.

Wie geht es nun weiter?
Das Ziel ist, dass wir keine Todesfälle mehr haben und die schweren Unfälle halbieren. Ich weiss nicht, ob wir dieses Ziel im Laufe der Kampagne erreichen können. Ohne weitere Massnahmen geht es bestimmt nicht. Mit dem Kennen der lebenswichtigen Regeln alleine ist das Thema jedenfalls noch nicht erledigt. Man muss sie auch anwenden.

Veröffentlicht in den Fachzeitschriften “umneubau”, “electrorevue”, “Bulletin electrosuisse”.

Bild: Tim Reckmann  / pixelio.de